Wir hatten ja bereits schon einmal kurz darüber berichtet, dass das, was man heutzutage gemeinhin als italienische Küche versteht, größtenteils überhaupt nicht aus Italien stammt.
Der Lebensmittelhistoriker Professor Alberto Grandi von der Universität Parma hat in seinem Buch „Denominazione di origine inventata“ beispielsweise aufgedeckt, dass der Vorläufer der heutigen Pizza ursprünglich aus der Levante stammt und dass die erste Pizzeria nach neuzeitlichen Vorstellungen nicht in Neapel eröffnet wurde, sondern in New York City.
Doch damit noch lange nicht genug. Parmesan wurde im US-Bundesstaat Wisconsin erfunden und Spaghetti Carbonara in Chicago. Auch viele andere vermeintlich italienische Klassiker wie Fettuccine Alfredo, Veal Parmigiana, Shrimp Scampi, Zuppa Toscana, Cioppino, Pasta Primavera, Chicken Piccata, Spaghetti Meatballs, Lobster Fra Diavolo, Sauce Marinara und Tiramisu sind in Wahrheit amerikanische Erfindungen.
Nudeln wurden allerdings nicht in den USA erfunden, sondern in China. Ach ja, der nach dem römischen Kaiser benannte Caesar Salad stammt auch nicht aus Italien, sondern aus Mexiko.
Losgelöst von der Frage, woher die eben erwähnten Speisen nun kommen, gehen wir eigentlich nie „italienisch“ essen und hochkalorische Lipid- und High-Carb-Klassiker wie Gnocchi Gorgonzola, Calzone oder Fettuccine Alfredo stehen auch nicht auf unserem Speiseplan.
Nun hat allerdings der legendäre New Yorker Kult-Italiener Carbone eine Dependance im Londoner Szeneviertel Mayfair eröffnet und sich praktisch über Nacht zum Hottest Place in Town entwickelt. Stars wie Gordon Ramsay, Victoria Beckham, The Edge, Paul Mescal, Benedict Cumberbatch, Anna Wintour, Leonardo DiCaprio, Poppy Delevingne, Harris Reed, Benicio del Toro, Roger Lynch und Kate Moss geben sich dort derzeit die Klinke in die Hand.
Da auch wir bekanntlich nicht völlig immun gegen den Scarcity-Effekt sind, haben wir uns entschlossen, unsere exzellenten Kontakte zu nutzen, um einen der heiß begehrten Tische zu reservieren und den neuen Place-2-be für Euch unter das gestrenge Mookular zu nehmen.

Das neue Carbone befindet sich im Untergeschoss des Rosewood Hotels am mondänen Grosvenor Square im ikonischen Chancery Gebäude des Architekturvisionärs Eero Saarinen. Allein die Location könnte kaum prestigeträchtiger sein.
Das ehemalige Botschaftsgebäude der Vereinigten Staaten wurde von Sir David Chipperfield und dem französischen Designpoeten Joseph Dirand für weit über eine Milliarde Euro in eine der glamourösesten Hospitality-Adressen Europas verwandelt.
Wir haben vor einiger Zeit darüber berichtet, dass der von dem visionären Retro-Futuristen Eero Saarinen entworfene TWA Terminal nach seinem traurigen Dornröschenschlaf zu einem Hotel umfunktioniert wurde und dass dort der mehrfach besternte Super Celebrity Chef und Multigastronom Jean-Georges Vongerichten das Hotelrestaurant betreibt.
Jeder, der diesen Mookular Bericht noch nicht kennt, sollte nach der Lektüre dieses Artikels unbedingt auch den Bericht über das TWA Hotel und das dort beheimatete Paris Cafe von Jean-Georges Vongerichten lesen. Es lohnt sich, versprochen.

Man betritt den imposanten Main Dining im Untergeschoss über ein kleines Treppenhaus, dessen Wände vollständig mit einem imposanten Wandgemälde gestaltet sind, das den Abstieg in die nostalgische italienisch-amerikanische Supper-Club-Welt schon optisch perfekt einleitet.
Die auf dem Wandbild gezeigte Szene wirkt wie ein lebendig gewordenes Theaterstück. Auf mehreren Ebenen entfaltet sich ein opulentes Restaurantpanorama, in dem sich elegante Gäste, Kellner in klassischer Bordo Livrée, Musiker und sogar ein tanzendes Paar tummeln.
So spürt man schon auf der Treppe, dass man nicht einfach ein Restaurant betritt, sondern in eine liebevoll inszenierte, glamouröse Fantasiewelt eintaucht, in der Essen, Design und Zeitgeist zu einem einzigen großen Gesamterlebnis verschmelzen.

Das Carbone verfügt übrigens auch über eine recht imposante Kunstsammlung. Die von Vito Schnabel kuratierte Kollektion umfasst Werke von Francesco Clemente, David Salle, René Ricard, Rashid Johnson, Ai Weiwei und natürlich auch von seinem Vater Julian Schnabel.
Das hier gezeigte Gemälde stammt übrigens von Rita Ackermann, der ungarisch-amerikanischen Künstlerin, die seit vielen Jahren zu den spannendsten Stimmen der internationalen Kunstszene gehört.

Mario Carbone, der Patrone des Hauses, hat der Financial Times gegenüber verlauten lassen, dass das Carbone eigentlich kein Restaurant ist, sondern vielmehr ein Theaterstück.
Und in der Tat stellt sich dieses Gefühl unmittelbar ein, sobald man den Gastraum betritt. Man fühlt sich augenblicklich auf eine Bühne versetzt, die irgendwo zwischen klassischem Manhattan Glamour und purem Goodfellas Feeling oszilliert.
Verantwortlich für das lässige Bygone-era-Design ist niemand Geringerer als Ken Fulk, oder wie ihn Insider nennen, the incredible Fulk. Mit seinem untrüglichen Gespür für Raumdramaturgie und atmosphärische Inszenierung hat er ein Setting geschaffen, das sich wie eine mondäne Hommage an die goldene Ära der italo-amerikanischen Supper Clubs anfühlt.
Fulk gehört seit Langem zu den einflussreichsten Interior-Designern der USA. Er ist bekannt für eine Handschrift, die irgendwo zwischen opulentem Storytelling, nostalgischen Referenzen und filmischer Überhöhung pendelt. Zu seinen Kunden zählen Tech-Milliardäre, internationale Celebrities und renommierte Hospitality-Brands, für die er ganze Themenwelten konstruiert, die sich eher wie Bühnenbilder als herkömmliche Interiors anfühlen. Besonders berühmt ist er für seine Fähigkeit, Räume mit einer fast cinematografischen Spannung aufzuladen und selbst funktionale Details wie Lichtquellen oder Möbelarrangements in kleine Acts einer größeren Erzählung zu verwandeln.
Wie das Carbone eindrucksvoll beweist, hat Ken Fulk die Italo-Glamour-Ästhetik der bygone era nicht nur verstanden, sondern auch eindrucksvoll in das pochende Herz des Londoner Szeneviertels Mayfair von heute transkribiert. Kein Wunder, dass sich die gesamte Londoner High Society dort ein und aus geht.

Wie man unschwer erkennt, hängt an der Stirnseite ein großformatiges Plate Painting des Malerfürsten Julian Schnabel.
Über Schnabel muss man eigentlich nicht mehr viel sagen. Er gehört zweifellos zu den wenigen zeitgenössischen Künstlern, die es geschafft haben, sich sowohl in der Kunstwelt als auch in der Popkultur nachhaltig in das kollektive Bewusstsein gleich mehrerer Generationen einzuprägen.
Er war nie nur Maler und Regisseur, sondern immer auch eine lebende Naturgewalt aus Exzentrik, intellektueller Wucht und einem geradezu unverschämten Selbstbewusstsein. Seine Präsenz in der internationalen Pop- und Kunstszene ist bis heute so dominant, dass selbst die eingefleischtesten Kunstbanausen seinen Namen nur ehrfürchtig raunen.
Besonders seine ikonischen Tellerwerke markieren eines der prägendsten Kapitel seines multidisziplinären Œuvres. Die zerschlagenen Porzellanfragmente, die er in großformatige Leinwände einbettete, schaffen eine Oberfläche, die sich jeder glatten Lesbarkeit verweigert und die Malerei in eine neue, beinahe skulpturale Dimension überführt. Einige dieser Arbeiten erzielten bei Auktionen sogar Preise im zweistelligen Millionenbereich!
Die Idee, Teller auf eine Leinwand zu kleben und zu übermalen, war damals geradezu genial. Er revolutionierte damit nicht nur die klassische Impasto-Malerei, sondern schuf zugleich ein unverwechselbares Alleinstellungsmerkmal. Selbst absolute Laien erkennen ein Plate Painting von Schnabel sofort an den aufgebrachten Tellern.
Damit sind seine Gemälde auch ein echtes Statement, weil man wie bei einem Dot Painting von Damien Hirst, den monumentalen Materialbildern von Anselm Kiefer oder den ikonisch gezogenen Squeegee-Gemälden von Gerhard Richter niemandem mehr erklären muss, wo Barthel den Most holt.

Die Speisekarte bietet so ziemlich alles, was das Herz eines Liebhabers der italo-amerikanischen Feel-Good-Cucina höher schlagen lässt. Es gibt beispielsweise den legendären Caesar alla ZZ, ein monumentales Veal Parmigiana, Lobster Fra Diavolo, Spaghetti Meatballs, Shrimp Scampi und die Spicy Rigatoni Vodka, das legendäre Signature-Gericht im Carbone.

Als gar nicht so kleinen Gruß aus der Küche serviert das Carbone ein regelrechtes Stakkato aus kleinen Stuzzichinos. Es gibt Parmesanstücke, die vom Kellner liebevoll aus dem Laib gebrochen werden, einen appetitlichen Salami Igel, einen Blumenkohlsalat und einen wirklich großartigen Brotkorb. Eine wirklich erstaunlich leckere Ouvertüre.

Im neuen Hot-Spot der Stadt wird noch sehr gerne mit einem Gueridon gearbeitet. Die Kellner am Servierwagen werden im Carbone übrigens nicht Kellner genannt, sondern Captains. Sie bewegen sich dabei mit der lässigen Präzision eines erfahrenen italo-amerikanischen Hitmans durch den Raum. Sie tranchieren virtuos Seezungen, flambieren Desserts in dramatischen Flammenfontänen und bereiten einen Caesars Salad so kunstvoll direkt am Tisch zu, dass selbst einfache Handgriffe plötzlich wie kleine japanische Tee Zeremonien wirken.

Der Caesar Salad im Carbone ist eine angenehm überraschende Erinnerung daran, wie brillant dieses vermeintlich simple Gericht sein kann. Schon beim ersten Bissen wird klar, dass hier Profis am Werk sind und dass der Salat mit einer Sorgfalt zubereitet wurde, die man heute nur noch selten findet.
Die knackfrischen, in großzügigen Blättern angerichteten Römersalatherzen bilden eine stabile Grundlage für das cremig-würzige Sardellen-Parmesan-Dressing, das den Salat mit einer perfekten Mischung aus feiner Anchoviswürze, einem Hauch Knoblauch und einer sauberen Portion Umami benetzt.
Besonders erfreulich ist, dass das Carbone auf die in Deutschland leider so beliebten Parmesanblätter verzichtet und den Käse lieber stilecht mit einer Microplane ultrafein über den Salat reibt. Dadurch entsteht eine filigrane, gleichmäßige Beschneiung, die den Salat aromatisch perfekt komplementiert, ohne ihn zu erschlagen.
Die Croutons sind im Carbone keine unscheinbaren Sidekicks, sondern monumental krosse Brotwürfel, die den Salat regelrecht dominieren. Außen wunderbar rösch, innen angenehm weich und mit einer couragierten Knoblauchnote parfümiert. Diese riesigen Kawentzmänner könnten mühelos auch als eigene kleine Mahlzeit durchgehen.

Die legendären Rigatoni im Carbone kommen spektakulär unspektakulär daher. Kein großes Brimborium, keine unnötige Dekoration, sondern einfach al dente gegarte Nudeln in einer leicht pikanten Vodka Tomaten Sauce. Getoppt wird das Ganze mit einem ultrafeinen Parmesan-Schnee, der direkt am Tisch frisch über die Pasta gerieben wird. Dafür verwendet der Captain ebenfalls eine Microplane-Reibe, die im professionellen Küchenjargon nicht ohne Grund gerne als Fingerfucker verbal verunglimpft wird.

Auch der kleine Chopped House Salad für umgerechnet nicht einmal 30 Euro sieht sehr unspektakulär aus. Allerdings besticht die Kreation durch absolute Frische, ein perfekt ausbalanciertes Säurespiel und eine angenehm knackige Textur. Insgesamt ein Salat ganz nach unserem Gusto. Wir vergeben deshalb mit gutem Gewissen 9 von 10 möglichen Mookpoints.

Die mediterranen Calamari Fritti im Carbone sind im Prinzip das kulinarische Pendant zum asiatischen Salt-n-Pepper-Squid, nur eben ohne Chilis und ohne pikanten Dip. Die Textur der köstlichen Mollusken ist im Carbone zart und sehr angenehm. Die Kolorierung ist im Gegensatz zu unseren frittierten Tintenfischen eher dezent. Offensichtlich möchten die Betreiber der neuen Place-2-be ihre illustre Gästeschar vor den Folgen schädlichen Acrylamids schützen.

Das Veal Parmigiana wirkt auf den ersten Blick wie eine bewusst üppig angelegte Hybrid-Kreation aus einem Wiener Schnitzel und einer Pizza Margherita. Auf dem Teller thront ein großformatiges, dünn geklopftes Kalbsschnitzel, das gleichmäßig paniert und ordentlich ausgebacken wurde. Darüber liegt eine Schicht Tomatensauce, etwas geschmolzener Mozzarella und mehrere leuchtend-grüne Basilikumblätter, die dem Gericht eine nahezu perfekt an eine Pizza Margherita erinnernde Optik verleihen.
Obwohl das Gericht handwerklich perfekt exekutiert wurde, sind wir uns nicht sicher, ob wir das bizarre Fusion-Gericht aus Schnitzel und Pizza wirklich mögen, weil die eigentlich krosse Panade durch die feuchte Tomatensauce unweigerlich aufgeweicht wird. Es ist eigentlich so ähnlich wie mit dem in Deutschland sehr beliebten Getränk Diesel. Wir mögen ein sauber gezapftes Bier genauso gerne wie eine eiskalte Coca-Cola, aber die Kombination aus beiden Getränken macht es nicht besser, sondern schlechter.

Das berühmte Chicken Massimo ist das mit Abstand bekannteste Signature Dish von Küchenchef Mario Carbone. Serviert werden einige saftig gegarte Hähnchenteile, die zuvor mit einer kräftigen Balsamico-Essig-Tinktur couragiert mariniert wurden.
Die Aromatik erinnert frappierend an das Dressing, das in praktisch allen italienischen Restaurants in Deutschland über den unvermeidlichen Rucolasalat mit Parmesanspänen gedrisselt wird. Wer dieses in good ol Germany extrem beliebte Geschmacksbild liebt, wird auch mit dem Chicken Massimo im Carbone mehr als zufrieden sein.
Beim Preis von umgerechnet knapp 50 Euro ohne Beilagen, Service Charge und zusätzlichem On-Top-Tip sind wir uns hingegen nicht zu hundert Prozent sicher.

Hier sehen wir Spaghetti Meatballs mit ohne Spaghetti. Das Gericht gehört zu den berühmtesten italienisch-amerikanischen Klassikern überhaupt, auch wenn es in Italien selbst praktisch unbekannt ist.
Seine Wurzeln liegen nicht in Neapel oder Sizilien, sondern in den Küchen der frühen italienischen Einwanderer in New York. Viele dieser Familien mussten sich mit dem begnügen, was in Amerika günstig und reichlich verfügbar war. Fleisch war dort plötzlich erschwinglich, Tomaten aus der Dose sowieso.
Der Geschmack der italoamerikanischen Fleischbällchen lässt sich im Carbone übrigens perfekt an der Optik ablesen. What you see is what you get. Eine leckere Bulette mit einer ebenso leckeren Tomatensauce.

Das Tiramisu gilt heute weltweit als Inbegriff der italienischen Dessertkultur, doch seine tatsächliche Herkunft liegt wahrscheinlich in den USA.
In den italienischen Einwanderercommunities der Ostküste begann man bereits in den fünfziger und sechziger Jahren damit, die traditionellen Schichtdesserts der Heimat mit amerikanischen Zutaten und Techniken zu kombinieren. Genau in diesem Umfeld entstand jene Variante aus Löffelbiskuits, Mascarponecreme, Espresso und Kakao, die später als Tiramisu weltberühmt wurde.
Ironischerweise wurde dieses amerikanische Tiramisu schließlich zurück nach Italien exportiert, wo es seit den achtziger Jahren als vermeintlicher italienischer Klassiker gefeiert wird.

Wenn man im Carbone konsequent auf teure Weine verzichtet und auch keinen additional Tip gibt, kann man dort schon zu viert für umgerechnet 700 Euro sehr schön und durchaus lecker essen.
Allerdings sollte man für diese kulinarische Tour de Force noch über einen exzellenten Metabolismus verfügen.
Leser, die noch nicht wissen, was es mit dem additional Tip auf sich hat, sollten jetzt diesen Link aktivieren.
