Die Pariser Bouillon-Chartier-Brasserie ist nicht nur wegen ihrer authentischen Belle-Époque-Kulisse, der forschen Kellner und ihrer ungewöhnlich schlichten Buchhaltung berühmt, sondern auch wegen ihrer unfassbar günstigen Preise. An keinem uns bekannten Ort der Welt kann man in einer vergleichbar beeindruckenden Atmosphäre günstiger essen. Vorspeisen beginnen schon bei einem Euro und Hauptspeisen bei sieben Euro. Das Konzept, nur extrem billige Zutaten zu verwenden, minderwertige Papiertischdecken aufzulegen und auf eine extrem hohe Frequenz zu setzen, geht voll auf. Die Bouillon Chartier ist von morgens um elf bis abends um elf an erstaunlichen 365 Tagen im Jahr durchgehend geöffnet und dabei ständig komplett überfüllt. Wir schätzen den täglichen Tischumschlag deshalb auf mindestens zehn Mal pro Tag – eine sehr konservative Annahme, die ebenfalls erklärt, warum die Preise so unfassbar niedrig sind. Das Präambelwort „Bouillon“ weist übrigens auf die historische Tatsache hin, dass die Bouillon Chartier im Jahr 1896 als Suppenküche und Armenspeisung begonnen hat.
Nun haben wir kürzlich im Mon Ami Maxi einen „Carottes Râpées“ auf die Speisekarte genommen und unter anderem auf Facebook darüber berichtet. In der Ankündigung haben wir nicht nur unseren Preis von 9,99 Euro erwähnt, sondern auch andere Brasserien, die ebenfalls einen klassisch französischen Karottensalat servieren, darunter auch die Bouillon Chartier. Daraufhin hat ein kritischer Facebook-Fan vorwurfsvoll insinuierend in den Kommentaren geschrieben, dass der „Carottes Râpées“ in der Bouillon Chartier nur lächerliche 2 Euro kostet und augenzwinkernd die These postuliert, dass dies wahrscheinlich der Tatsache geschuldet sei, dass die Mieten in Paris so unfassbar günstig sind.
Nun haben wir ein vollkommen anderes Konzept als die Chartier-Brasserie. Anstatt auf extrem hohe Frequenz zu setzen, ausschließlich billige Produkte zu verwenden und auf teuren Schnickschnack wie Stofftischdecken einfach komplett zu verzichten, setzen wir auf edle Tischkultur und hochwertiges Essen. Wir bieten im Mon Ami Maxi praktisch nur exklusive Produkte aus ethischer Produktion an, die schon im Einkauf so extrem teuer sind, dass wir sie nur sehr moderat kalkulieren können. Um diese Tatsache zumindest etwas auszugleichen, kalkulieren wir die wenigen Produkte, die im Einkauf ungewöhnlich günstig sind, etwas ambitionierter. Und in der Tat ist der Karottensalat das am besten kalkulierte Gericht der gesamten Speisekarte. In diesem Kontext sollten branchenfremde Zivilisten wissen, dass kaum ein Wirt nach einem statischen Schlüssel kalkuliert, sondern immer viele andere Faktoren in seine Mischkalkulation einbezieht. Dementsprechend ist das einzig seriöse Lackmuspapier zur Beurteilung einer fairen Restaurantkalkulation der Gesamtaufschlagsatz, und der liegt bei uns definitiv unter dem branchenüblichen Durchschnitt, weil wir schon lange nicht mehr kaufmännisch seriös kalkulieren, sondern unsere Preise regelmäßig viel zu niedrig erfühlen. Letztendlich vermuten wir sogar, dass die Bouillon Chartier trotz ihrer erstaunlichen Preispolitik unter dem Strich nicht nur dramatisch mehr Geld verdient als wir, sondern dass der Gesamtaufschlagsatz auch noch viel höher ist als bei uns. Der insinuierte Vorwurf, dass unser „Carottes Râpées“ zu teuer sei, ist deshalb komplett haltlos. By the Way: Für die letzten Carottes Râpées, die wir kürzlich im legendären Club 55 in Saint-Tropez gegessen haben, durften wir glatte 20 Euro bezahlen.
Was in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden muss, ist die Tatsache, dass Wirte in Frankreich eine wesentlich geringere Steuerbelastung haben als wir. In Frankreich gilt in Restaurants nämlich nicht nur der halbe Mehrwertsteuersatz auf Speisen, sondern auch auf alle alkoholfreien Getränke. Für alkoholfreie Getränke mit einem wiederverschließbaren Schraubverschluss, wie z. B. eine Flasche Wasser, gilt sogar ein nochmals stark reduzierter Mehrwertsteuersatz von nur 5,5 Prozent! In Deutschland hingegen gilt für alle alkoholischen und alkoholfreien Getränke der volle Mehrwertsteuersatz von satten 19 Prozent! Darüber hinaus werden Getränke wie Champagner, Cava, Prosecco und Crémant in Deutschland zusätzlich mit der sogenannten Schaumweinsteuer „on top“ besteuert!
Leser, die sich gerade im oberen Textteil gefragt haben, was wir mit der Aussage meinen, dass die Bouillon Chartier eine faszinierend schlichte Buchhaltung hat, hier noch die Erklärung: In der Bouillon Chartier sind Rechnungen keine hochkomplexen Steuerdokumente, auf denen Steuernummer, Datum, Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, Rechnungsnummer und die jeweils gültigen Mehrwertsteuersätze separat ausgewiesen werden, sondern lediglich unleserlich auf die billige Papiertischdecke gekritzelte Gedächtnisprotokolle. Wer die handschriftlich erstellte Rechnung als betrieblich veranlasste Ausgabe in seine Buchhaltung einspeisen möchte, muss sich das entsprechende Teilstück selbst aus der superdünnen Papiertischdecke herausreißen und beim Finanzamt einreichen. Anscheinend sind die gesetzlichen Vorgaben zum steuerlich korrekten Erstellen von Restaurantrechnungen in Frankreich dramatisch salopper als in Deutschland.
Interessierte Leser , die noch nicht wissen, welche völlig absurde Geschichte sich hinter der Schaumweinsteuer verbirgt, sollten jetzt noch folgenden Artikel lesen…